Mensch & Verantwortung

25 Jahre TAFEL in Deutschland: Und jetzt, Kai Noack?

Unter dem Motto: „Auch in Zukunft: Lebensmittel retten. Menschen helfen.“ blickt die Tafel Deutschland in diesem Jahr zurück auf 25 Jahre Tafel-Bewegung. Und gleichzeitig nach vorne, auf künftige Chancen und Herausforderungen.

Anlässlich des Jubiläums verteilen wir von Tchibo bereits jetzt (anstatt wie in den vergangenen beiden Jahren zu Weihnachten) 100.000 Pakete mit Gebrauchsgütern - ein kleiner Teil davon ist Kaffee - an die knapp 1.000 Tafeln mit über 2.000 Ausgabestellen. Dort werden sie wie gewohnt an bedürftige Menschen ausgegeben.

Die Zusammenarbeit mit der Tafel Deutschland ist Teil unseres gesellschaftlichen Engagements und ein Beitrag für mehr Fairness und sozialen Zusammenhalt. Deshalb freue ich mich sehr, dass wir den Tafel-Kunden zum dritten Mal in Folge eine kleine Freude machen können.

Neben der Akquise von Lebensmittel- und Sachspenden hat der Verband allerdings mit weitaus mehr Herausforderungen zu kämpfen: dem Generationenwechsel im Ehrenamt, der Entwicklung im Spenderverhalten und dem Wirken der Tafeln in der Gesellschaft. Da Kai Noack, stellvertretender Vorsitzender der Tafel Deutschland e.V., gestern bei Tchibo zu Besuch war, hatte ich die Gelegenheit, ihm ein paar Fragen zu stellen.

Lieber Herr Noack, Sie „feiern“ im September Ihr 25-jähriges Bestehen. 1,5 Mio. Menschen erreichen Sie regelmäßig mit insgesamt 940 Tafeln in ganz Deutschland. Entspannt sich trotz guter Wirtschaftszahlen die Lage in Deutschland – oder eher nicht?

Kai Noack: Vor 25 Jahren wurde die erste Tafel in Berlin gegründet – inzwischen gibt es über 940 in ganz Deutschland. Die Zahl der Tafel-Kunden steigt von Jahr zu Jahr. Waren es 2007 noch 700.000 Tafel-Nutzerinnen und Nutzer, kommen inzwischen 1,5 Millionen Bedürftige zu den Tafeln. Vom Wirtschaftswachstum merken viele Tafel-Kunden nichts. Millionen Arme bleiben ungehört und werden vom Staat vergessen, von der Gesellschaft an den Rand gedrängt.

25 Jahre Tafeln, das bedeutet 25 Jahre freiwilliges Engagement von 60.000 Tafel-Aktiven. Das bedeutet aber auch unzureichende gesellschaftspolitische Bedingungen für von Armut betroffene Menschen und Millionen Tonnen achtlos weggeworfener Lebensmittel. Im Jubiläumsjahr üben wir Kritik an den Versäumnissen des Sozialstaates, denn es muss endlich etwas gegen Armut getan werden. Die Tafeln machen Armut sichtbar und lindern die Situation vieler von Armut Betroffener. Deutschland hat ein massives Armuts- und Gerechtigkeitsproblem. Über 12 Millionen Menschen in Deutschland sind arm. Tafeln unterstützen lediglich 10 % von ihnen. Unser Ziel ist es, mit unserer Arbeit Armut raus aus dem Schattendasein zu holen und gemeinsam die Stimme gegen Armut und Lebensmittelverschwendung zu erheben.

Ursprünglich wurden die Tafeln gegründet, um Obdachlose mit Essen zu versorgen. Wer sind heute Ihre „Kunden“? Wer ist zunehmend besonders von Armut betroffen?

Kai Noack: Obdachlose sind längst nicht mehr die größte Nutzergruppe - sie machen nur noch ein Prozent aus. Heute kommen vor allem Senioren, Alleinerziehende, Geringverdiener, Geflüchtete. Ein Drittel der Tafel-Kunden sind Kinder und Jugendliche. Auch das Thema Kinderarmut wird bei Tafeln sichtbar. Armut wird vererbt, arme Kinder haben oftmals nicht die gleichen Chancen wie andere. Obwohl sich die Wirtschaftslage in Deutschland zunehmend verbessert, obwohl die Arbeitslosenquote stetig sinkt, ist heute jedes vierte Kind in Deutschland von Armut betroffen. Oftmals liegt das an der Arbeitslosigkeit der Eltern. Den betroffenen Eltern fehlt es am Nötigsten, um den Kindern einen normalen Alltag zu ermöglichen. Die Probleme spitzen sich immer weiter zu. Stigmatisierungen und gesundheitliche Einschränkungen sind die Folge. Es ist nachgewiesen, dass sich andauernde Armutserfahrung besonders bei Kindern und Jugendlichen negativ auf die Teilhabe- und Entwicklungsmöglichkeiten auswirken. Hier muss die Politik aktiv werden.

Angesichts dieser Lage müssen wir erkennen, dass die Politik noch keine wirksame Strategie gefunden hat, um Kinderarmut – und Armut allgemein – in Deutschland zu bekämpfen. Hartz-IV-Sätze sind für Kinder und Erwachsene zu niedrig bemessen. Wir fordern hier einen bedarfsgerechten Regelsatz! Auch Bildung muss in Deutschland stärker gefördert werden. Denn Bildung ist der Schlüssel für die Bekämpfung von Armut. Hier müssen mehr Angebote gemacht werden, unabhängig vom eigenen Geldbeutel, für jedes Kind. Wir fordern kostenlose, bedarfsgerechte und qualitativ hochwertige Bildung von der Kita bis zur Hochschule.

Angeblich fallen dank guter Logistik immer weniger Lebensmittel in den Supermärkten für die Tafeln ab – ist das korrekt? Was bedeutet das für Ihre Arbeit? Wie stellen Sie sicher, dass die Tafeln dennoch ausreichend Spenden erhalten?

Kai Noack: Supermärkte und Discounter optimieren seit Jahren, es werden aber immer noch viel zu viele Lebensmittel in Deutschland verschwendet – insgesamt sind es 11 Mio. Tonnen pro Jahr. Die Tafeln schöpfen mit ihrer Arbeit etwa 2,4 Prozent der Lebensmittelüberschüsse ab. Wir sehen sehr viele Möglichkeiten, um die Lebensmittelspenden weiter zu erhöhen. Insbesondere die Hersteller, die auf Landes- und Bundesebene angesprochen werden, sind eine neue Zielgruppe, um an überschüssige Lebensmittel zu kommen.

Längst geben Sie nicht mehr nur Lebensmittel und Sachgüter aus, sondern fördern auch soziale Projekte. Gibt es in diesem Zusammenhang Aktivitäten, die Sie hier besonders hervorheben wollen?

Kai Noack: Viele Tafeln bieten über die Lebensmittelausgabe hinaus verschiedene Projekte an: über den Bringdienst und Nachhilfeunterricht bis hin zu Kochkursen und Freizeitausflügen. Neben vielen lokalen Angeboten gibt es auch Projekte, die von Tafel Deutschland betreut werden. Besonders möchte ich hier das Projekt „Tafel macht Kultur“ hervorheben. Mit diesem Programm bringt die Tafel Deutschland kulturpädagogische Projekte in die lokalen Tafeln. Viele Kinder und Jugendliche, die zu den Tafeln kommen, leben in sozial und wirtschaftlich benachteiligten Umfeldern. Kinderarmut bedeutet für die Betroffenen oft, auf kulturelle und soziale Aktivitäten verzichten zu müssen. Ein Zoobesuch oder Ausflüge mit Freunden sind finanziell nicht möglich. Für diese Zielgruppe im Alter von drei bis 18 Jahren eröffnet das Programm Möglichkeiten zur kulturellen Teilhabe. Dabei ist alles möglich: eine Schreibwerkstatt durchführen, Bilder malen, basteln, einen Tanz einstudieren u.v.m. Ziel ist es, Kinder in ihrer Entwicklung zu fördern, sie sozial und kulturell zu integrieren.

Einige Tafeln bieten auch Angebote rund um gesunde Ernährung an, etwa Kochkurse, Kindertafeln und Schulfrühstücke. Viele Kinder und Jugendliche, die zu den Tafeln kommen, gehen ohne ein Frühstück aus dem Haus; die Eltern können es sich nicht leisten, dem Kind eine gesunde Mittagsverpflegung zu bieten. Hier setzen viele Tafeln an. Es gibt Kooperationen mit Schulen, die ein gesundes Schulfrühstück anbieten. Einige Tafeln bereiten in ihren Räumlichkeiten selbst warme Mahlzeiten für Schulkinder zu. Außerdem bieten manche Tafeln Hausaufgabenhilfen, Musikunterricht, Filmnachmittage, Ferienfreizeiten und sogar Konfliktbewältigungs-Trainings an.

60.000 Menschen engagieren sich für die Tafeln. Eine beeindruckende Zahl! Um diese Leistung der meist ehrenamtlichen Helfer besser zu würdigen, fordern Sie per Petition von der Politik Rentenpunkte für Ehrenamtliche. Wie viele haben mittlerweile die Petition unterschrieben? Wie ist bislang der Tenor dazu in der Politik?

Kai Noack: 90% der 60.000 Tafel-Aktiven sind Ehrenamtliche. Ohne sie wäre die Tafel-Arbeit nicht möglich. Doch sie kommen an ihre Belastungsgrenzen. Sie dürfen damit nicht alleine gelassen werden. Wir fordern von Politik und Gesellschaft, den Fokus stärker auf Armutsbekämpfung zu legen und ehrenamtliches Engagement zu fördern. Aktuell haben rund 6.400 Menschen die Tafel-Petition „Rentenpunkte für das Ehrenamt“ unterzeichnet. Damit fordern wir: Wer sich nachweislich über viele Jahre ehrenamtlich engagiert hat, soll künftig zusätzliche Rentenpunkte erhalten!

Mit der Petition möchten wir die Stärkung des Ehrenamtes in die Debatte mit einbringen. Nach Ende der Laufzeit im Oktober 2018 übergibt die Tafel Deutschland die Unterschriftensammlung an Bundesarbeitsminister Hubertus Heil.

Die ehrenamtlichen Helfer arbeiten nicht nur in der Essensausgabe, sie arbeiten auch als Fahrer, helfen Kindern bei den Hausarbeitern, Senioren bei Fahrdiensten und Flüchtlingen mit Sprachkursen. Bei welchem „Amt“ sehen Sie gerade besonderen Bedarf?

Kai Noack: Wir beobachten, dass an allen Stellen zusätzliche helfende Hände benötigt werden. Besonders neue Tafel-Leitungen werden gesucht, oft gibt es nicht ausreichend Fahrer. Hier sprechen wir gezielt mit dem Projekt Tafel Jugend junge Helferinnen und Helfer an und möchte sie dazu animieren, sich bei der Tafel zu engagieren. Wie die langjährigen Ehrenamtlichen auch, können sie so schnell Verantwortung und die Leitung eigener Projekte übernehmen – eine reizvolle Tätigkeit neben dem Studium oder der Ausbildung; oder als Bundesfreiwilligendienstleistender.

Vor allem Rentner sind bei den Tafeln engagiert. Würden Sie sich auch jüngere Helfer wünschen? Wie könnte man diese gewinnen?

Kai Noack: Die Nachwuchsgewinnung ist bei uns gerade sehr aktuell, um die Tafeln fit für die Zukunft zu machen. Die Tafel Jugend spricht vor allem junge Engagierte an. Viele Tafeln sind auch Einsatzstellen für den Bundesfreiwilligendienst. Für junge Menschen müssen andere Engagementmöglichkeiten angeboten werden. Junge Helferinnen und Helfer arbeiten oft gerne zeit- und projektbezogen - z.B. als Student in den Semesterferien oder am Nachmittag neben der Ausbildung. Hilfreich für junge Helfer ist die Ansprache über digitale Kanäle. Der Dachverband möchte hier künftig seine Tafel-Mitglieder beim Ausbau der Digitalisierung unterstützen, um auf allen Ebenen aktuell zu sein.

Wo sehen Sie die größten Herausforderungen für die Zukunft der Tafel?

Kai Noack: Viele Tafeln haben massive Probleme, neue Ehrenamtliche zu gewinnen. Gründe dafür sind u.a. eine längere Lebensarbeitszeit, vielfältige Engagement-Angebote von anderen sozialen Institutionen und hohe Anforderungen des Tafel-Ehrenamtes. Für Ehrenamtliche braucht es neben flexiblen Einsatzzeiten, die Verteilung insbesondere der Vorstands- und Leitungsstellen auf mehreren Schultern. Um die Tafel-Arbeit zu unterstützen, bietet die Tafel-Akademie freiwillige Qualifizierungsangebote und die Möglichkeit für Vernetzung und Austausch.

Als Dachverband wollen wir unsere Mitglieder verstärkt darin unterstützen, ihre Arbeit zu professionalisieren. Dabei hat das Thema Digitalisierung Priorität, um die Warenverteilung noch besser zu steuern und sich an die Neuerungen des Handels anzupassen. Wenn Tafeln und Supermärkte, aber auch die Lebensmittelproduzenten besser vernetzt sind, können die Spendenmengen erhöht und die Lebensmittelverschwendung weiter reduziert werden. Die größten Herausforderungen sind an digitalen Wegen, dass sie kostengünstig, anwendungsfreundlich und bestenfalls einheitlich aufgebaut sein sollten. Die Mitarbeitenden müssen geschult, die technischen Voraussetzungen wie PCs und Smartphone und der Datenschutz sichergestellt werden. Diese Schritte sind für die Zukunft der Tafeln sehr wichtig, bedeuten aber gleichzeitig zusätzlichen Aufwand und Zeit, die die Helfer oft nicht haben. Mit den Herausforderungen der Digitalisierung gehen aber auch einige Chancen einher: Die Optimierung der logistischen Prozesse, die Zunahme geretteter Lebensmittel, die Vereinfachung und Flexibilisierung des Managements der Tafeln oder die Akquirierung jüngerer Ehrenamtlicher und Spender.

Wir sind auch darin bestrebt, mit einer Kampagne zum Mindesthaltbarkeitsdatum (MHD) Menschen darüber aufzuklären, dass das MHD kein Verfallsdatum ist und Lebensmittel auch lange nach Ablauf des MHD noch genießbar sind. Hier appellieren wir dazu, die eigenen Sinne zu nutzen und selbst die Haltbarkeit zu prüfen. Viele Verbraucher fühlen sich in die Irre geführt. Das führt dazu, dass im Jahr durchschnittlich 82 kg genießbare Lebensmittel pro Kopf im Müll landen! Wir wollen das MHD thematisieren und damit erreichen, dass die Lebensmittelverschwendung weiterhin reduziert wird.

Zielsetzung der Tafel-Arbeit in der Zukunft ist es, noch mehr überschüssige Lebensmittel zu retten und bedürftigen Menschen zu helfen.

Lieber Herr Noack, danke für das Gespräch!