Mensch & Verantwortung
Bangladesch

Bangladesch - Start der ersten Arbeitsunfallversicherung

Kaum zu fassen, aber wahr: Bangladesch ist das einzige Land unter den 20 größten Textilexporteuren, das keine Form von Sozialversicherung anbietet, auch nicht für Arbeitsunfälle. Die gute Nachricht: Am 21. Juli 2022 startete die Regierung von Bangladesch gemeinsam mit der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO), der GIZ, Arbeitgebervertretenden, Arbeitnehmervertretenden, der deutschen und der niederländischen Botschaft und internationalen Marken (wie Tchibo) das erste Pilotprojekt zur Arbeitsunfallversicherung. Zu den Hintergründen befragte ich meine Kollegin in Bangladesch, Fatima Chowdhury.

Fatima Chowdhury, Tchibo Nachhaltigskeits-Managerin Bangladesch

Fatima, warum gab es in Bangladesch bislang keine Sozialversicherungen?

Es stimmt, von den größten Bekleidungsexportländern der Welt ist das Sozialschutzniveau für die Textilarbeiter in Bangladesch das niedrigste. Es gibt aber keine einfache Antwort für die Gründe. Einige sind die niedrigen Löhne, die minimale soziale Absicherung und die billigen Arbeitskosten, die Bangladesch geholfen haben, mit anderen Bekleidungsexportländern wettbewerbsfähig zu bleiben. Dabei geht es nicht nur um die Arbeitenden, es ist auch nicht spezifisch für den Bekleidungssektor. Im Allgemeinen haben die Menschen in Bangladesch nur wenig Zugang zu sozialer Sicherheit. Das ist aber nicht fair. Das Recht auf Zahlung von Einkommensverlusten und medizinische Versorgung nach einem Arbeitsunfall ist ein international anerkanntes Arbeitsrecht, das allen Arbeitnehmern zustehen muss.

War die Katastrophe von Rana Plaza kein Weckruf?

Nach dem Unfall von Rana Plaza lag der Fokus darauf, die Fabriken sicher zu machen. Was zu diesem Zeitpunkt sicherlich Priorität hatte. Deshalb war Tchibo maßgeblich an der Aushandlung des Abkommens über Brandschutz und Gebäudesicherheit in Bangladesch beteiligt und unterstützte auch 2021 die Verlängerung und Erweiterung des internationalen Abkommens. Das hat immens dazu beigetragen, die Arbeitsbedingungen in den Textilfabriken in Bangladesch zu verbessern. Jetzt, da wir sagen können, dass die Fabriken sicherer sind als zuvor, ist es an der Zeit, uns auf die Arbeitenden im Falle eins Unfalls zu konzentrieren. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben zwar das Recht auf einen sicheren Arbeitsplatz, aber es ist ebenso wichtig, dass sie bei einem Arbeitsunfall entschädigt werden.

Diese Situation ändert sich nun mit dem Pilotprojekt der "Arbeitsunfallversicherung". Tchibo ist eines der Unternehmen, die dieses Projekt unterstützen.

Das System für Arbeitsunfälle (EIS) ist ein Sozialschutzsystem, das Entschädigungen für medizinische Behandlung und Rehabilitationsleistungen sowie für Einkommensverluste aufgrund von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten vorsieht. Der derzeitige Entschädigungsmechanismus in Bangladesch ist völlig unzureichend und entspricht nicht den internationalen Arbeitsnormen. Wenn sich in einer Fabrik ein Unfall ereignet, der zur dauerhaften Invalidität oder zum Tod eines Arbeiters oder einer Arbeiterin führt, sieht das bestehende System in Bangladesch eine einmalige Zahlung eines minimalen Pauschalbetrags für den Arbeitenden oder seine Familie vor. Die internationale Arbeitsnorm verlangt jedoch, dass die Entschädigung auf der Grundlage des letzten Lohns und des Alters des Arbeiters, der Anzahl der Angehörigen usw. berechnet und regelmäßig gezahlt wird.

Ein Beispiel: Nach dem derzeitigen System erhält ein Arbeitnehmer, der durch einen Arbeitsunfall dauerhaft arbeitsunfähig wird, eine einmalige Zahlung von etwa 200.000 bangladeschischen Taka (ca. 2064 Euro), während er nach internationalem Standard 6000 Taka (ca. 61 Euro) im Monat für den Rest seines Lebens erhalten sollte, wenn der letzte Lohn des behinderten Arbeiters 10000 Taka/Monat (ca. 103 Euro) betrug.

Das Pilotprojekt zielt darauf ab, eine dauerhafte Struktur für die Arbeitsunfallversicherung einzurichten, um vom derzeitigen System zur internationalen Arbeitsnorm überzugehen. Es umfasst auch Komponenten der Datenerfassung und des Kapazitätsaufbaus, die den nationalen Parteien helfen sollen, ein vollwertiges System für Arbeitsunfälle auf nachhaltige Weise einzurichten. Tchibo hat seine Unterstützung für das Pilotprojekt zur Arbeitsunfallversicherung zugesagt, das in den nächsten fünf Jahren durchgeführt werden soll.

Wie deckt diese Regelung Arbeitsunfälle ab? Wie viele Arbeitnehmende profitieren davon?

Die neue Unfallversicherung deckt eine regelmäßige Entschädigung für alle Arten von Arbeitsunfällen in Bekleidungsfabriken in Bangladesch ab. Sie entschädigt verletzte Arbeitnehmer und Angehörige von Verstorbenen im Falle von Unfällen, die zu dauerhafter Invalidität oder zum Tod führen. Das Besondere an diesem Projekt ist, dass es nicht nur den Arbeitenden von Tchibo Zulieferbetrieben oder Fabriken anderer Marken zugutekommt, die dieses Projekt unterstützen. Das Projekt gilt für alle Arbeitenden in der Bekleidungsindustrie in Bangladesch, d.h. für etwa 4 Millionen Menschen!

Wer zahlt bei einem Arbeitsunfall, zum Beispiel an einer Nähmaschine? Der Staat?

Wenn sich heute ein Unfall in einer der Bekleidungsfabriken in Bangladesch ereignet, wird der bestehende staatliche Fonds eine Pauschalentschädigung gemäß dem bestehenden Rechtsrahmen zahlen, während eine zusätzliche lebenslange Rente aus dem finanziellen Beitrag der Markenunternehmen zum Pilotprojekt an die Begünstigten gezahlt wird, um den internationalen Standards zu entsprechen.

Welche Unternehmen sind mit an Bord?

Neben Tchibo unterstützen fünf weitere Marken dieses Pilotprojekt. Sie sind: Bestseller, Fast Retailing, die H&M-Gruppe, KiK und Primark. Nur wenige andere Marken sind derzeit im Gespräch mit der ILO, und wenn alles gut läuft, werden vielleicht noch mehr Unternehmen an Bord kommen. Dieses Pilotprojekt wird auch vom deutschen Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und der niederländischen Regierung finanziert, die IAO und die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) GmbH sind die Durchführungspartner.

Was passiert nach der 5-jährigen Pilotphase?

Ziel des Pilotprojekts ist es, den Weg zur Einführung einer dauerhaften Arbeitsunfallversicherung aufzuzeigen, die internationalen Standards entspricht, so dass nach Abschluss des Pilotprojekts die lokalen Akteure es weiterführen können. Zu diesem Zweck wurde ein dreigliedriger Ausschuss mit Vertretern der Regierung, der Arbeitgeberverbände und der Gewerkschaften eingerichtet. ​​​​​​​

Danke, Fatima, für das Gespräch!